Projekt Beschreibung

Autor: Markus Frädrich

Auf den Friedhöfen der philippinischen Großstadt Cebu leben hunderte Familien, die sich anderswo keine Wohnung leisten können. Die Steyler Missionare engagieren sich vor allem für die Zukunft der Kinder, die zwischen den Grabsteinen aufwachsen.

„Luft!“ rufen die Kinder wie aus einem Munde. „Wasser! Erde! Sonnenlicht!“

Die junge Kindergärtnerin Mary Jane ist zufrieden. „Sehr gut“, ruft sie. An die Tafel hat sie heute Morgen in großen Buchstaben die Frage geschrieben „Was braucht die Pflanze zum Wachsen?“. Den Mädchen und Jungen sind viele Dinge eingefallen. Zum Abschluss dürfen alle Kinder eine Blume gießen, die Mary Jane mitgebracht hat. Dann ist erst mal Frühstückspause.
Nach einem kurzen Gebet greift Aizeeh zu ihrem Löffel. Die Vierjährige liebt Reis. Und sie liebt den Kindergarten von Carreta. Sie mag die bunten Kärtchen an der Wand, auf denen Mary Jane den Kindern Buchstaben, Farben und Formen erklärt hat. Außerdem die vielen Lieder und Spiele, die ihre Kindergärtnerin kennt.

Dass neben dem Eingang des Raums, gleich neben den vier weißen Plastiktischen der Kinder, ein großer Marmorsarg steht, ist für Aizeeh völlig normal. „Familie Medina“ steht in großen, goldenen Buchstaben auf seiner Vorderseite. Hier ruhen Benita, Gorgonia und andere Medinas. Der Kindergarten für Zwei- bis Sechsjährige: Er ist eine Grabstätte. Eine Grabstätte mitten auf dem Friedhof von Carreta.

Hier wohnen Aizeeh, ihre Geschwister und ihre Eltern gemeinsam mit wenigstens 40 anderen Familien. Sie alle gehören zu den ärmsten Menschen in Cebu City. Auf der Suche nach einem Unterschlupf sind sie auf dem Friedhof fündig geworden. In den Mausoleen haben sie sich häuslich eingerichtet, mit Teppichen, Wäscheleinen und Wandbildern. Sanitäre Einrichtungen gibt es nicht.

Aizeeh schläft nachts mit ihrer kleinen Matratze auf einem steinernen Sarg. Die Familie des Toten kommt nur einmal im Jahr, an Allerheiligen, auf den Friedhof. Dann müssen die Eltern von Aizeeh die Grabstätte räumen. An den übrigen Tagen duldet man sie. Aizeehs Vater verdient sich etwas Geld dazu, indem er Grabinschriften fertigt. Aizeehs Mutter sammelt die Reste von Totenlichtern ein, um aus dem Wachs neue Kerzen für die Friedhofsbesucher zu drehen. Umgerechnet einen Euro bringen 60 Exemplare der Recycling-Ware. Außerdem verkauft sie in einem windschiefen Holzstand Blumen an Besucher von Trauerfeiern.

Bereits seit den 1950er Jahren leben Menschen auf dem Friedhof: Aizeehs Mutter ist auf Carreta, direkt an der General Maxilum Avenue, geboren worden. Hier ist sie aufgewachsen, hier hat sie sich verliebt und ihre eigenen Kinder zur Welt gebracht. Und es ist gut möglich, dass der Friedhof eines Tages auch zu ihrer letzten Ruhestätte wird.

„Viele Familien träumen dennoch von einem Leben außerhalb der Friedhofsmauern“, erzählt Pater Max Abalos. Seit vielen Jahren engagiert sich der Steyler Missionar mit dem grau melierten Haar für die Friedhofsmenschen von Cebu. „Aber in der Stadtmitte von Cebu sind die Wohnungen unbezahlbar. Manche der Friedhofsmenschen mussten ihre Hütten im Zentrum für Neubauprojekte räumen, andere sind im städtischen Strudel aus Gewalt, Drogen und Prostitution untergegangen – und wohnen hier nun als Lebende unter den Toten.“

Der Steyler Missionar spaziert an Grabfeldern entlang, grüßt freundlich in bekannte Gesichter. „Hier treffen wir uns regelmäßig zum Gottesdienst“, sagt Pater Max und zeigt auf die Friedhofskapelle von Carreta. „Anschließend verteilen wir oft Lebensmittel und Medizin, denn viele Menschen hier können sich kaum etwas zu essen leisten oder sind krank.“

Auf dem benachbarten chinesischen Friedhof, in Laufweite zum größten Einkaufszentrum von Cebu City, reifen Früchte zwischen den Grabplatten. „Wir ermutigen die Menschen, Obst und Gemüse anzubauen“, erklärt Pater Max. „Die Friedhofsbewohner sollen fähig sein, sich selbst zu ernähren. Es ist ungemein wichtig für ihr Selbstwertgefühl, dass sie sich nicht als Bettler fühlen.“ Auch hier hat Mary Jane eine Kindergartengruppe in einer der Grabstätten. „Natürlich war das anfangs sehr merkwürdig, in einem Raum mit Sarg in der Mitte zu unterrichten“, sagt die 29-Jährige. „Aber die Herzlichkeit der Familien und ihrer Kinder haben es mir leicht gemacht.“

Seit wenigen Monaten arbeitet Mary Jane bei ANCE, jener Nichtregierungsorganisation, die Pater Max 2006 ins Leben gerufen hat. Das Ziel von „Action for Nurturing Children and Environment“: Arme und Ausgegrenzte durch Bildung und Gemeinschaftsförderung zu unterstützen. Vor allem die Kinder und Jugendliche seien ihm wichtig, sagt Pater Max. „Ihnen gehört die Zukunft“, so der Steyler Missionar. „Sie sollen eines Tages in anderen Verhältnissen leben als zwischen den Toten. Aber dazu müssen sie regelmäßig in den Kindergarten und in die Schule gehen. Da es schwierig ist, die Kinder und Jugendlichen in öffentlichen Einrichtungen unterzubringen, bringen wir Kindergarten und Schulunterricht einfach zu ihnen – und fördern sie, ihre eigenen Fertigkeiten zu entwickeln.“

Einer, der davon profitiert hat, ist Ryan. Er hat gute Chancen auf ein besseres Leben. Pater Max trifft den Zwölfjährigen einige Straßenblocks südlich, auf dem Basketballplatz des kommunalen Friedhofs, zwischen Holzhütten und Grabsteinen. Auf dem rund zwei Fußballfelder großen Areal ist inzwischen ein eigener, dicht besiedelter Mikrokosmos entstanden, mit Internetcafé, Outdoor-Billardtischen – und Sportflächen. Es stinkt erbärmlich. Der städtische Schlachthof ist gleich um die Ecke.

Ryan ist ein guter Basketballer – aber er ist auch ein cleverer Schüler. „Seine Noten sind gut“, sagt Pater Max und streichelt dem Jungen freundschaftlich über den Kopf. „Geboren und aufgewachsen ist Ryan hier auf dem Friedhof. Dann und wann verdient er sich als Wasserträger ein paar Pesos dazu. Aber mit einem Schulabschluss in der Tasche kann er einmal richtig durchstarten.“ Wie zum Beweis trifft Ryans Ball den Korb. Seine Freunde jubeln.
Pater Max winkt den Jungs zum Abschied zu, dann setzt er seine Runde über den Friedhof fort. Unter einem schattigen Baum sitzt eine alte Frau und ruht sich aus. Hühner picken auf Gräbern nach etwas Essbarem. Friedhofskreuze sind mit Wäsche behangen. „Über die Jahre habe ich mich daran gewöhnt, wie die Leute hier mitten unter den Toten leben“, sagt Pater Max. „Manche Besucher sind betroffen, wenn sie sehen, dass die Kinder ihre Hausaufgaben auf den Gräbern machen. Ich aber freue mich. Nicht, weil ich ihnen keine Schreibtische wünsche. Sondern weil ich weiß: Diese Kinder haben eine Zukunft.“

Bildnachweis:
Copyright für alle Bilder: Achim Hehn/SVD

 

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